Auf Sicht fahren…
Der Diener ging, hielt Ausschau und meldete: »Kein Regen in Sicht!« Doch Elia schickte ihn immer wieder: »Geh, sieh noch einmal nach!« 1 Könige 18, 43
„Auf Sicht fahren“, dieser Ausdruck ist in den vergangenen Monaten der Corona-Krise zu einem geflügelten Wort geworden. In den Nachrichten, in Politik und Wirtschaft, selbst in Kirche und Gemeinde hört man es. Wir fahren inzwischen alle nur noch „auf Sicht“ und meinen damit, dass langfristige Planungen in der Krise nicht möglich sind und wir jederzeit in der Lage sein müssen zu reagieren.
Irgendwie wissen wir alle, was gemeint ist. Wer als Autofahrer schon einmal im Nebel bei eingeschränkter Sicht unterwegs war, der weiß, dass zu hohe Geschwindigkeit lebensgefährlich sein kann. Auch im Schiffsverkehr kann das „Auf Sicht Fahren“ wichtig werden, z.B. in Hafengebieten mit hohem Verkehrsaufkommen. Auf See hingegen ist das „Auf Sicht Fahren“ eine ziemlich schlechte Idee. Je schwerer die See, je stärker der Sturm und je dichter der Nebel, umso mehr muss man sich auf einem Schiff dann auf Radarortung und GPS verlassen können.
So verwundert es nicht, dass der Ausdruck ursprünglich aus dem Bereich des Schienenverkehrs stammt. Da wird in der Regel signalgesteuert und eben nicht auf Sicht gefahren. Nur bei Ausfall von Signalen oder bei extremen Wetterlagen wird dann radikal umgestellt und „auf Sicht“ gefahren. Ein Schienenfahrzeug kann nicht ausweichen, es muss im Notfall rechtzeitig halten können. Das heißt, mit Schritttempo muss der Zugführer selbst auf z.B. umgestürzte Bäume reagieren können. Da werden Fahrpläne und Reiseziele tatsächlich ganz schnell überflüssig. Und insofern stimmt die Analogie zu Politik und Unternehmensentscheidungen. Eine Volkswirtschaft ähnelt tatsächlich einem Güterzug, den man nicht so schnell anhalten kann.
Aber stimmt das Bild auch in Bezug auf das Leben und den Glauben? Einerseits ja. Die Krise, in der wir uns befinden, macht es erforderlich, dass wir unser Tempo reduzieren und uns neu über den vor uns liegenden Schienenabschnitt orientieren. Darin liegt auch eine Chance. Die Geschwindigkeit, mit der wir im Leben unterwegs sind, tut uns oft nicht gut. Vieles bleibt am Wegesrand unentdeckt und ungewürdigt liegen. Die Krise fordert uns heraus, unsere Endlichkeit zur Kenntnis zu nehmen und dankbar zu werden für die großen und kleinen Geschenke des Lebens. Die Krise lässt manchen Fahrplan platzen, aber sie gibt auch Gelegenheit, uns neu über unsere Reiseroute zu orientieren.
„Auf Sicht fahren“ ist auch für unseren persönlichen Glauben gut. In den stillen Tagen der vergangenen Wochen wurden wir ein Stück weit zurückgeworfen auf unsere persönliche Beziehung zu Gott. Der „fromme Trubel“ in Gottesdiensten und Gruppentreffen fand nicht statt. Da waren wir gezwungen, selbst zur Quelle zu gehen und „auf Sicht“ zu fahren. Manchen fiel das leicht, andere taten sich damit schwer und erlebten auch Zweifel und Anfechtung.
Aber in einer Sache ist das „Auf Sicht Fahren“ regelrecht zu vermeiden. Gott lässt sich durch unsere Katastrophen nicht aus dem Konzept bringen. Ob und inwiefern sie vielleicht sogar Teil seines Konzeptes sind, vermag ich nicht zu beurteilen. Was ich weiß ist, dass Er da ist und Er handeln wird, egal, wie die Wetterlage momentan auch aussieht.
In 1. Könige 18 wird uns berichtet, wie das Volk Israel einmal verzweifelt in die Wolken sieht, weil man so dringend auf den Regen wartet, der seit langer Zeit ausgeblieben war. Der Prophet Elia vertraut darauf, dass Gott sein Versprechen einlöst. Elia sendet seinen Diener aus, um den Himmel zu beobachten und dann heißt es: „Der Diener ging, hielt Ausschau und meldete: »Kein Regen in Sicht!« Doch Elia schickte ihn immer wieder: »Geh, sieh noch einmal nach!« Und da war die erste kleine Wolke. Der Regen kam.
Wir wollen mitten in der Krise nicht nur auf Sicht fahren. Denn dann verlieren wir uns in den Details, in unseren Ängsten oder gar in nebulösen Theorien. Ein solches „Auf Sicht Fahren“ führt eben nirgendwo hin. Da halten wir besser unseren Blick auf Gott gerichtet. Mit ihm können wir mitten in dieser verwirrenden Zeit erstaunlich gut orientiert leben. Diese Krise wird einmal enden. Gott kennt den Weg! Er blickt durch. Er behält das große Ganze im Auge und fährt doch – im Bild gesprochen – auf Sicht, nämlich auf Sicht zu uns. Er kennt unsere Sorgen und Ängste und ist im Nebel direkt neben uns.
Deshalb wurde er Mensch. Er mutete es sich selbst zu, die Dürren unserer Existenz auszuhalten. Er entschied sich dazu, um im Nebel des Lebens an unserer Seite zu sein. Dafür ließ unser Herr sogar den Fahrplan der Heilsgeschichte ändern. Er kann das.
Gott sei Dank!
Bastian Meyer