Die Menge derer, die gläubig geworden waren, war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam. Apostelgeschichte 4,32
Die Utopie von der „konfliktlosen“ Gemeinde
Aus dem Griechischen hat sich das Wort Utopie in unseren deutschen Sprachschatz geschlichen. Utopia ist wortwörtlich übersetzt ein „Nicht-Ort“; aus altgriechisch ou „nicht“ und topos „Ort“. Eine Utopie ist eine schöne, aber völlig unrealistische Vorstellung von der Zukunft. Konfliktfreie Gemeinde ist eine solche Utopie.
Es gibt sie nicht, aber wir tragen alle die Idee der perfekten Gemeinde in uns. Das hat natürlich Gründe. Gott selbst hat die Idee der vollkommenen Gemeinschaft in unsere Herzen gepflanzt. Wie gern lesen wir daher die berühmten Verse aus der Apostelgeschichte, in denen alle Gläubigen „ein Herz und eine Seele“ waren (Apg. 4,32). Wir denken: Wo Gottes Geist gegenwärtig ist, muss doch diese Einheit automatisch entstehen. Wie „ent“-täuschend ist dann die Erfahrung: Konflikte bleiben, zumindest in dieser Welt, eine unumstößliche Realität. Nicht selten lautet dann unsere Schlussfolgerung: Weil Konflikt etwas „Gefährliches“ ist, muss er in jedem Fall vermieden werden. Damit machen wir es natürlich nicht besser, sondern bringen uns um wichtige Lebens – und Lernerfahrungen.
Auch in der Urgemeinde gab es Konflikte
Das Neue Testament erlöst uns an dieser Stelle von falscher Romantik. Konflikte gehörten von Anfang an zur Gemeinde dazu. Im Galaterbrief Kap. 2 wird uns vom sog. „Antiochenischen Zwischenfall“ berichtet.
Antiochia war ein wichtiges Missionszentrum der frühen Kirche. In der Großstadtgemeinde waren viele Menschen zum Glauben gekommen, nun aber nicht nur hebräisch oder hellenistisch geprägte Juden, sondern „waschechte“ Heiden. Sie nahmen Christus an, ohne vorher Juden geworden zu sein. Mussten sie sich beschneiden lassen und die jüdischen Gesetze einhalten? Der Konflikt mutet uns heute nicht sehr bedrohlich an, aber er hätte beinahe die Christenheit gespalten. Es ging um nichts weniger, als „das Wesen des Christentums“. Die Frage lautete: Sollte die Jesusbewegung Teil des Judentums bleiben, oder war sie etwas Neues, etwas ganz Eigenes?
Während eines Besuches von Petrus in Antiochia passierte es: Kephas hatte mit den heidenchristlichen Geschwistern gegessen und das Abendmahl gefeiert. Gott hatte Petrus längst deutlich gemacht, dass die Speisegebote für Christen so nicht mehr gelten konnten, deshalb freute er sich an der Mahlgemeinschaft und langte kräftig zu. Alles lief gut, bis einige Brüder aus dem Umfeld des Jakobus nach Antiochia kamen. Für sie war die Tischgemeinschaft mit Heiden ein Problem. Alle Blicke waren bei der nächsten Mahlzeit auf Petrus gerichtet. Was würde er tun?
Und der Fels „wankte“. Beim Abendessen ging er an den griechischen Geschwistern vorbei und setzte sich zu den hebräischen Christen. Hier am Tisch war alles ordnungsgemäß koscher zubereitet, aber die Tischgemeinschaft war verletzt. Andere hebräische Christen taten es ihm gleich, sogar Barnabas, ein Mitarbeiter des Paulus. Andere schwiegen, sicher auch aus Respekt vor dem ersten Apostel. Paulus nicht. Der „Kleine“ ging auf den „großen Fischer“ aus Galiläa zu und stellte ihn zur Rede: „Wenn du, der du ein Jude bist, heidnisch lebst und nicht jüdisch, warum zwingst du dann die Heiden, jüdisch zu leben?“ (Gal. 2, 12)
Man kann sich die atemlose Stille vorstellen, die in diesem Moment den Speisesaal erfüllte. Paulus konfrontierte hier nicht irgendwen, und er tat es nicht still unter vier Augen, und er sparte nicht an drastischen Worten. Sofort stellt sich die Frage: Hat Paulus sich hier korrekt verhalten? Gebietet uns der Friede nicht ein vorsichtigeres Vorgehen?
Paulus nennt zwei maßgebliche Gründe für sein Einschreiten.
Erstens: Er wusste, es gibt Konfliktsituationen, in denen es gefährlich ist, einen Vorfall im Halbdunkel zurückzulassen, weil er dann weiter um sich greifen kann. Beim Thema Rechtfertigung durfte es keine Kompromisse geben. Hier ging es um die Frage nach der Mitte des Evangeliums. „Mitte“ meint hier nicht einen für alle möglichst tragfähigen Kompromiss. Die Mitte ist radikal Jesus. Es durfte nicht zu einem „Christus und…“ kommen. Allein die Gnade Gottes war es, die einen Christen zum Christen machte. Kein anderes System (Gal 2, V. 17) durfte an seine Stelle treten.
Der zweite Vorwurf, den Paulus gegen Petrus richtet, ist der Vorwurf der Heuchelei (hypocrisis). Er handelte hier gegen seine eigene Überzeugung unter dem Deckmantel der Frömmigkeit (Gal 2,13). Als Grund für diese Heuchelei enttarnt Paulus die Angst vor frommer Verurteilung. Damit hatte sich Petrus von den hebräischen „Hardlinern“ vor ihren theologischen Karren spannen lassen. Das konnte Paulus so nicht stehen lassen.
Ein neuer Blick auf den Konflikt
Der jungen Christenheit ist das theologische „Klingen kreuzen“ der beiden großen Apostel in Erinnerung geblieben. Auch die Urgemeinde musste lernen, mit Konflikten umzugehen. Von Anfang an gab es im Zuge des missionarischen Wachstums unterschiedliche Problemfelder, in denen hart gerungen wurde. Auch persönliche Konflikte gehörten dazu. Aber am Ende wurden diese Konflikte zum Teil eines Lösungsweges, den der Geist Gottes für seine Gemeinde bereithielt.
Konflikte können destruktive Kräfte entfesseln, aber sie haben auch das Potential, Gutes hervorzubringen.
Konflikte sind Ausdruck der göttlichen Vielfalt. Wir dürfen den Konflikt nicht voreilig als Sünde einordnen. Unterschiedliche Sichtweisen liegen in der Freiheit und Einzigartigkeit begründet, die Gott seinen Kindern schenkt. Gottes Geist kann uns unterschiedliche Dinge wichtigmachen. Das Wort „Konflikt“ ist aus dem Lateinischen entlehnt; „confligere“ heißt so viel wie zusammenprallen. „Gutes“ kann auch aufeinanderprallen und um seinen Platz kämpfen. Auch die hebräischen Traditionalisten hatten ihre Argumente, und sie wurden auf dem Apostelkonzil auch gehört. (Apg. 15) Gott mutet es uns zu, einander zuzuhören und uns, unter der Wirkung des Heiligen Geistes, auf Prioritäten zu einigen.
Offener Konflikt ist Kommunikation und damit besser als Nichtkommunikation. Nicht die, die streiten sind oft das Problem, sondern die, die ausweichen. Konflikt holt ans Licht, was sonst im Verborgenen weiter unkontrolliert um sich greifen würde. Problematisch wird es, wenn nicht der Heilige Geist unsere Kommunikation bestimmt, sondern Stolz und Rechthaberei. Damit kann der Konflikt keinen geistlichen Zweck mehr erfüllen und lässt alle Beteiligten entmutigt zurück.
Konflikte können Auftakt positiver Entwicklungen sein. Es ist kein Zeichen des geistlichen Verfalls, wenn in einer Gemeinde unterschiedliche Frömmigkeitsstile und theologische Positionen aufeinanderprallen. Große Zeiten wurden immer von großen Konflikten begleitet. (z.B. in der Reformation) Und nicht selten nutzte Gott aufbrandende Konflikte, um seine Gemeinde wachzurütteln, oder sie auf etwas aufmerksam zu machen. Ein fair und sachlich geführter Konflikt kann der Anfang von etwas Neuem sein.
Konflikte bieten Lernfelder. Maßgebliche Kompetenzen im persönlich-charakterlichen Bereich werden in Konflikten erworben. Wir können nicht auf sie verzichten. Konflikte aus Angst zu meiden, ist keine Alternative. Ein erfahrener Gemeindeberater riet einer Gemeinde sinngemäß einmal folgendes: „Wenn ihr „große“ Konflikte vermeiden wollt, lernt es, die „kleinen“ gesund auszutragen. Habt Mut zu mehr Konfrontation und Konflikt im alltäglichen Gemeindeleben.“
Konflikte können Beziehungen vertiefen. Fair geführte Konflikte können sogar zu tieferen und stabileren Beziehungen führen. Man hat eine gemeinsame Geschichte und etwas miteinander durchgestanden. Das gilt auch für Gemeinden. Wie motivierend ist es, nach einer schwierigen Gemeindesituation festzustellen, dass alle Standpunkte gehört und gewürdigt wurden und Gott seiner Gemeinde nun neue Horizonte aufreißt.
Eine gute Streitkultur ausbilden
Wie die erste Gemeinde, so leben auch wir in herausfordernden Zeiten. Das gilt sowohl für theologische Herausforderungen, als auch für die sich rasant vollziehenden kulturellen Veränderungsprozesse. Es werden auch für uns nur selten Antworten vom Himmel fallen. Konfliktlösung gehört eigentlich zu den Kernkompetenzen der Gemeinde Jesu, überlassen wir das nicht den anderen, sondern lernen wir zu streiten. Christus hat uns berufen, seine Gemeinde mündig zu führen. Und der Heilige Geist ist in allen Auseinandersetzungen nicht abwesend, sondern drängt uns, von der Mitte (Jesus) her, Konflikten zu begegnen. Was wir brauchen ist der Mut, eine gesunde Streitkultur einzuüben.
Bastian Meyer
(Auszug aus dem Buch „Krasse Zeiten. Starker Glaube“)