Ich trage eine Brille. Ohne diese sehe ich entfernte Dinge nur sehr schwach und unscharf. Die Diagnose meines Optikers vor vielen Jahren lautete: Sehvermögen sehr gut, Sehkraft aber ziemlich schwach. Das bedeutet, dass ich eine Brille benötige, um meine Sehschwäche auszugleichen. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch, dass ich mit meiner Brille als Sehhilfe insgesamt über ein sehr gutes Sehvermögen verfüge. Nun gibt es für mich keine Ausreden mehr, gut sichtbare Dinge in meinem Blickfeld zu übersehen.
In der Jahreslosung heißt es: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Gottes Sehkraft und Sehvermögen sind stets unbegrenzt. Daran gibt es keinen Zweifel, auch wenn es uns Menschen je nach Situation vielleicht mal so vorkommen mag, dass Gott uns nicht sehen würde. Hagar, von der dieser Vers aus der Bibel stammt, hat diesen Satz nach einer Begegnung mit einem Engel Gottes gesagt. Vorher kam es ihr so vor, dass niemand sie sehen würde. Sie war Opfer und auch Mittäterin in einer ziemlich verzwickten Situation.
Alles begann damit, dass Abraham und Sara der Verheißung Gottes, dass er den beiden einen Sohn schenken würde, nicht geglaubt und Gott nicht vertraut haben. Man muss allerdings auch fairerweise anfügen, dass sie bereits im Alter von etwa 85 (Abraham) und 75 (Sara) Jahren zehn Jahre lang auf die Erfüllung dieser Verheißung gewartet hatten. Aus menschlicher Perspektive kann man ihr Handeln daher durchaus nachvollziehen. Bei allem Verständnis ist es aber dennoch so, dass sie in dieser Situation mehr ihrer eigenen Anstrengung als Gott vertraut haben. Und dann kommt es so, dass Sara dem Abraham ihre Magd Hagar zur Verfügung stellt, um mit ihr im Namen Saras ein Kind zu zeugen. Hagar wird dann auch tatsächlich schwanger. Infolgedessen schaut diese aber auf die kinderlose Sara herab, obwohl diese ihre Herrin ist. Daraufhin beschwert sich Sara bei Abraham, welcher ihr die Wahl lässt, wie sie mit ihrer Magd verfährt. So kommt es, dass Sara Hagar demütigt und diese die niedrigsten Aufgaben verrichten lässt. In ihrer Not flieht Hagar in die Wüste, weil sie es bei Sara nicht mehr aushält.
In dieser verzwickten Situation, zu der alle drei beteiligten Personen ihren Anteil beigetragen haben, begegnet Gott dann Hagar. Sie möchte von niemandem gefunden werden – Gott aber findet sie. Er sieht sie als Menschen an und nicht als Mittel, um den Weg der eigenen Anstrengung zu gehen. Obwohl Hagar nicht den Sohn in sich trägt, den Gott verheißen hat, und nicht zu der von Gott erwählten Verheißungslinie gehört, sieht er sie als geliebtes Geschöpf, welches dem Blick des Vaters nicht verborgen ist. Er ist ein Gott, der sie sieht. Wenn man sich diese Hintergründe vor Augen führt, wird erst so richtig deutlich, was es bedeutet, dass Gott jeden einzelnen Menschen wirklich sieht und im Blick hat. Dass er sich wirklich um jeden Menschen sorgt und sich wünscht, dass jeder zur Erkenntnis der Wahrheit kommt und zu ihm umkehrt. Diese Liebe zeigt sich dann auch in Jesus Christus, durch den Gott jedem Menschen die Möglichkeit eröffnet, zum Vater im Himmel zu kommen.
Es wird deutlich: Gott sieht jeden Menschen. Wie ist es aber bei uns? Wen oder was sehen wir? Sehen wir wirklich die Menschen in unserem Umfeld? Oder sehen wir vielleicht lieber die Aufgaben, die wir zu erledigen haben, oder nur die Menschen, die wir sowieso mögen und bereits gut kennen? Gott jedenfalls hat für jeden Menschen den Weg durch Jesus Christus bereitet. Die Frage an uns lautet daher, inwiefern wir bereit sind, den Menschen zu sehen – zum Beispiel den Menschen, der uns (noch) fremd ist, oder den Menschen, der Jesus Christus noch nicht kennt? Ja, dies mag uns durchaus etwas kosten. Womöglich müssen wir mal für einen Moment unsere Aufgaben hintenanstellen, oder das bequeme und bekannte Umfeld verlassen. Gott aber hat es sich auch nicht weniger als seinen Sohn Jesus Christus kosten lassen, um auf eine überwältigend deutliche Art und Weise zu zeigen, dass er wirklich jeden Menschen sieht und unendlich liebt. Ist es da nicht auch mal an uns, dass der Blick für den Mitmenschen uns etwas kosten mag?
Gleichzeitig dürfen wir um folgenden Trost wissen: Gott vergibt uns jeden Augenblick, in welchem wir die Menschen in unserem Umfeld nicht gesehen haben oder nicht sehen wollten. Er vergibt uns jeden Moment, wo uns unsere Aufgaben oder unsere Arbeit wichtiger waren. Auch dafür ist Jesus für uns am Kreuz gestorben. Und gerade, weil dies so ist, ist es sein tiefster Wunsch, dass wir uns in unseren Herzen bereitwillig von ihm verändern lassen. Sodass wir die Welt und die Menschen mit seinen Augen sehen können. Sodass wir die Menschen sehen, die wir bisher nicht gesehen haben oder nicht sehen wollten.
Gott ist ein Gott, der uns sieht. Er sieht uns, und er möchte unseren Blick verändern. Daher möchte ich uns zu Beginn dieses Jahres Mut machen und dazu einladen, dass wir uns auf Gottes Blick einlassen und die Menschen mit seinen Augen sehen.
In diesem Sinne wünsche ich euch einen gesegneten Start in das Jahr 2023, in welchem Gottes Blick uns beherrschen möge!
Matthias Lederich